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Um Aikido besser verstehen zu können, ist es nötig in die Welt des Budo (Budo = ursprünglich Kriegskunst) einzudringen. Für uns, die wir außerhalb Japans aufgewachsen sind, ist das schwierig. Uns liegen teilweise nur bruchstückhafte Informationen über die faszinierende Welt des Budo vor, zudem neigen wir schnell dazu, bekannte Verhaltensmuster auf andere, uns nicht vertraute Phänomene zu übertragen.

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Erfahrungen beispielsweise aus dem Sport, sind dabei keineswegs hilfreich. Denn zwischen Sport und Budo liegt eine große Distanz. Werden im Sport körperliche Ertüchtigung und Leistung gesucht, so gehen die Bemühungen im Budo, also auch im Aikido in eine ganz andere Richtung. Der Aspekt der Ertüchtigung ist zwar durchaus enthalten, allerdings suchten schon die Samurai, wohl wissend, wie beschränkt die Kraftpotentiale eines Körpers sind, nach Lösungen, dieser Begrenztheit zu begegnen. Die Erkenntnis, zu der sie gelangten war die, dass im Körper Energiezentren angelegt sind, mit deren Aktivierung die Fähigkeiten des Körpers um ein Vielfaches übersteigert werden können. Dies wiederum führt zu sehr komplexen Übungsabläufen, unter Einbindung von Willen, körperlichen und mentalen Fähigkeiten.

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Neulinge im Aikido sehen zunächst nur die Techniken. Wer es bei einem gelegentlichen Training belässt, kommt über dieses Stadium des Technikerlernens auch nicht hinaus. Die Techniken allerdings sind keineswegs gering zu schätzen, da sie unser Vehikel, unser Hilfsmittel sind, uns an ihnen zu üben. In ihrer möglichst präzisen Ausführung, später in unserem Verständnis, unserem Begreifen, um schließlich (nach Jahren) auch die spirituellen Möglichkeiten des Aikido zu erschließen.

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Aikido-Techniken haben es in sich! Sie sind ein Symbiose aus Eleganz und Effektivität. Bevor es jedoch an das Erlernen der technischen Abteilung geht, durchläuft der Aikido-Schüler in einem Dojo, dem Budoübungsraum, die Einführung in die Etikette. Und auch hier ist es nicht mit ein bisschen Verbeugen getan. Die Dojo-Etikette unterscheidet sich nur in sehr wenigen Punkten von dem, was wir "draußen" als gutes Benehmen bezeichnen. Es handelt sich also nicht um etwas völlig Fremdes, Aufgesetztes.

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Um einige Beispiele zu nennen: das Dojo wird von den Schülern gereinigt, damit diese einerseits lernen, Dinge, die sie umgeben, sorgfältig zu behandeln, andererseits nicht mit fortschreitendem Können, die Bodenhaftung verlieren (... das hab ich nicht mehr nötig...). Nicht jeder im Dojo ist einfach nur mit eh, Stefan oder Anna anzusprechen. Zwar reden sich die Schüler durchaus mit dem Vornamen an, gerne wird aber ein höfliches "san" hinten dran gehängt. Die Lehrer werden grundsätzlich mit "Sensei" (Lehrer) angesprochen und auch den Sempais (Dojomanagern) begegnet man höflich, d. h. man folgt ihren Anweisungen umgehend. Denn sie sind es, die von den Lehrern angeknurrt werden, wenn das Dojo schmutzig ist, oder sonst etwas nicht so läuft, wie es sollte.

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Es gibt also eine Struktur im Dojo, in die man sich einfügen muss, wobei diejenigen mit der größten Verantwortung auch am meisten arbeiten: Sowohl vor, während, als auch nach dem Training. Das Dojo-Leben ist eine Gemeinschaft, in der jeder versucht, dem anderen in welcher Form auch immer, behilflich zu sein. Sei es beim Putzen, oder beim Üben auf der Matte und selbstverständlich endet dieses Verhalten auch nicht an der Tür des Dojo, sondern wird mit in die Welt nach draußen mitgenommen. Sprich: im Dojo putze ich das Waschbecken, zu Hause sollen das die anderen machen, oder im Dojo bin ich freundlich und geduldig, woanders lasse ich mich dann gehen.

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Dass sich Veränderungen von Haltungen und Einstellungen nicht in zwei Wochen verwirklichen lassen, muss an dieser Stelle nicht näher erläutert werden. Der Prozess der Veränderung dauert ein Leben lang ...

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Deshalb kann man mit Fug und Recht Aikido als ein "Selbsterziehungs- bzw. Entwicklungsprozess" bezeichnen, dass natürlich neben der Beherrschung der Etikette noch vielfältige andere Fähigkeiten vermittelt, allerdings keineswegs nur die der Selbstverteidigung. Es geht hier also nicht um das schnelle Erlernen von Kampfkunsttechniken, weshalb ja nicht wenige ein Dojo aufsuchen. Selbstverteidigung ist ein legitimer Punkt, der häufig jedoch völlig falsch bewertet wird.

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Die Samuraizeiten sind längst vorbei und auch sonst, bei aller Kriminalität, ist die statistische Wahrscheinlichkeit Opfer eines Verbrechens zu werden eher gering im Vergleich zu anderen Widrigkeiten, die uns zustoßen könnten: Autounfälle, Krankheiten, die wir selber auslösen durch Nikotin, Alkohol und andere Drogen. Auch leben wir nicht im Krieg und gegen terroristische Angriffe sind auch Aikidotechniken machtlos. Was wir beeinflussen können ist unsere innere Haltung, zu der wir gelangen können, wenn wir uns immer weiter im Aikido bemühen.

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Im Japanischen heißt diese Haltung: ken ju shin aiki und bedeutet, dass man mit zunehmendem Aikidoverständnis zu einer Auffassung gelangt, die uns erkennen lässt, dass JEDES Lebewesen ein Recht auf Existenz hat und daraus eine Haltung des friedlichen Miteinander folgen muss. Womit wir beim Kern des Aikido angekommen wären, dem Punkt also, den Morihei Ueshiba, der Begründer des Aikido im Auge hatte: Aikido kann ein wichtiger Faktor in der Entwicklung innerer Größe und Reife sein, uns helfen effektiver mit unserer Umwelt fertig zu werden. Aikido stimuliert die grundlegende Wahrnehmung: Tastempfinden, Schwerkraft, Balance, Körperhaltung, Sehvermögen, Gehör, das Empfinden für Hitze, Zeit und Raum und schafft eine Vorstellung für Vorsatz und Absicht.

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Im Unterricht, der in unserer Ryu von den beiden Gründern Esther und Bruno Pierling, sowie zwei weiteren Lehrern gegeben wird, finden alle Aspekte des Aikido ihren Ausdruck, der körperliche, der mentale, der philosophische und alle stehen gleichberechtigt nebeneinander. Auch im Kindertraining, wo man manchmal zu anderen Begrifflichkeiten übergeht, man aber ebenso deutlich feststellt, dass Kinder sehr an Philosophie interessiert sind, denn sie ist nichts Alltagsuntaugliches, sondern passt ganz wunderbar mitten in unser Leben hinein.